Eine Gedenktafel für Irmgard Weinberg
Mittwoch, 17. Mai 2023 Stadt-Anzeiger Süd Hannoversche Allgemeine Zeitung
Kirchrode. Die Tafel ist nicht nur mit Buchstaben beschriftet. Sie ist auch mit tastbarer Punktschrift versehen. So können auch Blinde mit den Fingerkuppen dem Schicksal des blinden Mädchens nachspüren, das hier einst zur Schule ging. „Wir erinnern an die jüdische Schülerin Irmgard Weinberg“, heißt es auf der Tafel, die künftig im Eingang des Landesbildungszentrums für Blinde hängen soll. Und weiter: „Sie besuchte unsere Schule bis 1927.“
Mit einer Gedenkfeier in der Aula hat das Landesbildungszentrum an der Bleekstraße jetzt an Irmgard Weinberg erinnert, an die 1911 geborene Tochter eines Schlachters und Viehhändlers aus Hameln. Sie war die letzte von insgesamt sechs jüdischen Schülerinnen und Schülern, die die Einrichtung zwischen 1843 und 1933 besuchten. Etwa ein Jahr lang lebte sie dort im „Mädchenhaus".
Nach seiner Zeit in Hannover hatte das Mädchen Anfang der Dreißigerjahre eine Massageschule in Kassel besucht, die Ausbildung aber abbrechen müssen, weil Mitschülerinnen sich weigerten, mit einer Jüdin das Zimmer zu teilen.
Mit Gleichgesinnten forschten die Lehrkräfte in Archiven und nahmen Kontakt zu früheren Bekannten der Familie Weinberg auf. Nach jahrelangen Recherchen fanden sie heraus, dass die einstige Schülerin 1939 mit ihrer Familie nach Argentinien geflohen war. Und tatsächlich spürten sie die alte Dame 2006 in einem jüdischen Altenheim bei Buenos Aires auf.
Irmgard Weinberg hatte lange in der Familie ihrer Schwester gelebt und sich um ihre Nichten und Neffen gekümmert. „Eine berufliche Anstellung hat sie nie gefunden", sagt Engel. Schülerinnen nahmen damals für die hochbetagte Frau eine Kassette mit deutschen Volksliedern auf, die sie ihr nach Argentinien schickten. Die blinde Dame starb 2011 wenige Tage vor ihrem 100. Geburtstag.
Als Jüdin und Behinderte sei Irmgard Weinberg in der NS-Zelt gleich zweifach verfolgt worden, sagt Schulleiter Martin Baaske. Bei der Gedenkfeier an der Bleekstraße schlug er auch einen Bogen in die Gegenwart und warnte vor heutigem Antisemitismus. „Nur wenn die Erinnerung wachgehalten wird, können sich solche Geschehnisse nicht wiederholen“, sagte er. Passend dazu trugen die Jugendlichen Ben und Josi ein Gedicht vor, das zu Zivilcourage aufrief.
Der frühere Landtagspräsident Jürgen Gansäuer lobte die „großartige Arbeit“ des Geschichtsprojekts, das er selbst über Jahre begleitet hatte. Gabor Lengvel. Rabbiner der Liberalen jüdischen Gemeinde, berichtete in einer sehr persönlichen Rede davon, wie durch ähnlich engagierte Nachforschungen vor zwei Jahren in Augsburg das Grab seiner Mutter ausfindig gemacht werden konnte, die 1945 von den Nazis ermordet wurde. Er betonte, welch großen Stellenwert die Erinnerung in der jüdischen Tradition hat.
Außer der Tafel im Eingangsbereich soll ein zweites, steinernes Exemplar, das ebenfalls an Irmgard Weinberg erinnert, künftig im kleinen Museum der Einrichtung ihren Platz finden. Zur Erinnerung an ein blindes Mädchen, das fast in Vergessenheit geraten wäre.